Biomarker ebnen den Weg zu einer personalisierten Versorgung von Polytraumapatient:innen
Die Behandlung von Polytraumapatient:innen stellt eine herausfordernde interdisziplinäre Aufgabe dar. Insbesondere ist der Zeitpunkt der definitiven Versorgung von Frakturen der langen Röhrenknochen, des Beckens und der Wirbelsäule für die Minimierung von Sekundärschäden und die Maximierung des Outcomes entscheidend.
Während beim „Early Total Care“-Protokoll eine sofortige definitive operative Frakturstabilisierung erfolgt, wird die Fraktur nach dem „Damage Control Orthopedics“-Konzept vorübergehend mit einem Fixateur externe oder einem Gips behandelt und die definitive osteosynthetische Versorgung sekundär erst nach intensivmedizinischer Stabilisierung des Gesamtzustands des:der Patient:in vorgenommen.
Polytraumapatient:innen mit einem begleitenden schweren Thoraxtrauma haben ein hohes Risiko, ein akutes Lungenschädigungssyndrom (ARDS) und/oder eine nosokomiale Pneumonie zu entwickeln und gelten als besonders anfällig für eine überschießende Entzündungsreaktion nach frühzeitiger Osteosynthese. Pulmonale Komplikationen können aber auch während der Wartezeit auf die sekundäre Versorgung auftreten und eine definitive Osteosynthese verzögern oder sogar vereiteln, sodass der bei dem vorliegenden Verletzungsmuster mögliche optimale chirurgische Behandlungserfolg nicht erzielt werden kann.
Die Wahl der operativen Versorgungsstrategie muss daher im Rahmen einer individuellen Risikostratifizierung erfolgen. Wäre es möglich, das Auftreten eines ARDS oder einer Pneumonie bereits unmittelbar nach der Klinikaufnahme vorauszusehen, könnte dieses Wissen zu der Entscheidung führen, jenen Teil der operativen Behandlung, der für die maximal mögliche Wiederherstellung der Funktionalität des verletzten Körperteils sowie für die zu erwartenden Spätfolgen ausschlaggebend ist, bereits im Rahmen der primären chirurgischen Versorgung durchzuführen. Eine Entscheidungshilfe für die Therapiewahl zu liefern, war 2011 ausschlaggebend für die Gründung der Forschungsgruppe „Biomarker“ durch Ap. Prof. Priv.-Doz. Dr. Lukas L. Negrin, MMSc, PhD, mit dem Ziel eine Basis für die personalisierte Versorgung von Polytraumapatient:innen zu schaffen.
Diese Forschungsgruppe war die erste, die im Rahmen einer großangelegten, von der Österreichischen Nationalbank geförderten, prospektiven Studie ausgewählte Serum-Biomarkerspiegel bei Polytraumapatient:innen unmittelbar nach ihrer Klinikaufnahme und zwei Tage später evaluierte. Dabei wurde der initiale sRAGE-Spiegel als diagnostischer Biomarker für die Schwere einer parenchymalen Lungenverletzung und der initiale CYFRA21-1-Spiegel als prädiktiver Biomarker für ein ARDS identifiziert, während der am Tag 2 nach dem Unfall erhobene CC16-Spiegel als prädiktiver Biomarker für eine Pneumonie erkannt wurde.
Des Weiteren konnte die Forschungsgruppe IL33, sST2, HSP27 und HSP70 als mögliche Biomarker zur Charakterisierung und Überwachung der Immunreaktion bei Polytraumapatient:innen ausmachen, wobei höhere Spiegel bei Patient:innen mit einem Thoraxtrauma vorzufinden waren sowie mit einer schlechteren Überlebensprognose und der Entwicklung eines ARDS einhergingen. Schlussendlich konnten hohe sNGAL-Spiegel als Indikatoren für die Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie ermittelt werden.
Die biomedizinische Grundlagenforschung hat bereits eine Unmenge an Biomarker-Kandidaten genannt, die es für ihre klinische Eignung zu testen gilt. Zielsetzung der aktuellen, noch in der Auswertungsphase befindlichen, ebenfalls groß angelegten, prospektiven Studie an Polytraumapatient:innen ist es, neben diagnostischen und prädiktiven auch prognostische Biomarker zu identifizieren. Um auch die Wirksamkeit einer Therapie vorhersagen zu können, aber auch um inflammatorische und fibrinolytische Signalwege aufzuzeigen, die Hinweise auf eine Behandlungsstrategie auf individueller Basis geben könnten, ist es geplant, die Serum-Spiegel von über 100 Biomarker-Kandidaten im zeitlichen Verlauf von 10 Tagen zu erheben und auszuwerten.
Eine Pilotstudie zeigt bei allen bis dato evaluierten Patient:innen eine übermäßige Freisetzung von sRAGE und eine anschließende fast ungebrochene Abnahme ihrer Serum-Spiegel innerhalb der ersten fünf Tage nach Erleiden des Polytraumas und kann damit die weitverbreitete Vermutung widerlegen, dass sRAGE-Spiegel die Entwicklung einer Lungenschädigung anzeigen. Die zweite Pilotstudie fand heraus, dass während der gesamten Studienperiode die mittleren tPA Antigen-Spiegel bei Polytraumapatient:innen mit einem ARDS höher als bei jenen ohne einem ARDS waren. Nach der Klinikaufnahme stieg bei Patient:innen, die ein ARDS entwickelten, der infolge des zahlreichen Verletzungen erhöhte tPA Antigen-Spiegel bis zum Einsetzen des Syndroms entweder weiter an oder erlitt einen zweiten Anstieg, um unmittelbar danach zu sinken. Kontinuierlich während der Hospitalisierung erhobene tPA Antigen-Spiegel scheinen daher die drohende Entwicklung eines ARDS anzeigen und somit Hochrisikopatient:innen identifizieren zu können.
Aufgrund der Heterogenität im Verletzungsmuster und der Vielzahl an möglichen Vorerkrankungen ist jedoch davon auszugehen, dass es keinen einzelnen Biomarker gibt, der das Potential hat, Subgruppen von Polytraumapatient:innen zu identifizieren, denen eine bestimmte Behandlungsstrategie höchstwahrscheinlich zugutekommt oder, gegenteilig, bei denen mit unerwünschten Reaktionen zu rechnen ist.
Nur ein Panel von Biomarkern, das verschiedene Aspekte der körpereigenen Immunabwehr widerspiegelt, kann dieser Anforderung genügen und schlussendlich in das Behandlungsregime von Polytraumapatient:innen als Entscheidungshilfe für die Wahl des adäquaten individuellen Therapiekonzeptes implementiert werden. Langfristiges Ziel der Forschungsgruppe ist es daher, Biomarker mit einer nachgewiesenen diagnostischen, prädiktiven oder prognostischen Relevanz zu Panels zu kombinieren und ihre Performance in der klinischen Praxis zu testen.
Publikationen
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- Negrin LL, Halat G, Kettner S, Gregori M, Ristl R, Hajdu S, Heinz T. Club cell protein 16 and cytokeratin fragment 21-1 as early predictors of pulmonary complications in polytraumatized patients with severe chest trauma. PLoS One. 2017 Apr 5;12(4):e0175303. doi: 10.1371/journal.pone.0175303. PMID: 28380043; PMCID: PMC5381917.
- Haider T, Simader E, Hacker P, Ankersmit HJ, Heinz T, Hajdu S, Negrin LL. Increased serum concentrations of soluble ST2 are associated with pulmonary complications and mortality in polytraumatized patients. Clin Chem Lab Med. 2018 Apr 25;56(5):810-817. doi: 10.1515/cclm-2017-0762. PMID: 29341938.
- Negrin LL, Hahn R, Heinz T, Hajdu S. Diagnostic Utility of Serum Neutrophil Gelatinase-Associated Lipocalin in Polytraumatized Patients Suffering Acute Kidney Injury: A Prospective Study. Biomed Res Int. 2018 Nov 6;2018:2687584. doi: 10.1155/2018/2687584. PMID: 30533430; PMCID: PMC6247699.
- Negrin LL, Ristl R, Halat G, Heinz T, Hajdu S. The impact of polytrauma on sRAGE levels: evidence and statistical analysis of temporal variations. World J Emerg Surg. 2019 Mar 18;14:13. doi: 10.1186/s13017-019-0233-6. PMID: 30923559; PMCID: PMC6421664.
- Haider T, Simader E, Glück O, Ankersmit HJ, Heinz T, Hajdu S, Negrin LL. Systemic release of heat-shock protein 27 and 70 following severe trauma. Sci Rep. 2019 Jul 3;9(1):9595. doi: 10.1038/s41598-019-46034-w. PMID: 31270381; PMCID: PMC6610099.
- Halát G, Haider T, Dedeyan M, Heinz T, Hajdu S, Negrin LL. IL-33 and its increased serum levels as an alarmin for imminent pulmonary complications in polytraumatized patients. World J Emerg Surg. 2019 Jul 19;14:36. doi: 10.1186/s13017-019-0256-z. PMID: 31360218; PMCID: PMC6642565.
- Negrin LL, Dedeyan M, Plesser S, Hajdu S. Impact of Polytrauma and Acute Respiratory Distress Syndrome on Markers of Fibrinolysis: A Prospective Pilot Study. Front Med (Lausanne). 2020 Jun 2;7:194. doi: 10.3389/fmed.2020.00194. PMID: 32582720; PMCID: PMC7280477.
Kooperationen
- Universitätsklinik für Anästhesie, Allgemeine Intensivmedizin und Schmerztherapie
- Universitätsklinik für Chirurgie
- Universitätsklinik für Radiologie und Nuklearmedizin
- Zentrum für Medizinische Statistik, Informatik und Intelligente Systeme
Aktuelles Funding
Österreichische Gesellschaft für Unfallchirurgie